Identitäre Anthroposophie
Was in der Anthroposophischen Bewegung leider vorgeht. Aus der Zeitschrift DieDrei, Ausgabe 2017/10.
Innerhalb der anthroposophischen Presselandschaft nimmt das von der Initiative ›Entwicklungsrichtung Anthroposophie‹ herausgegebene ›Ein Nachrichtenblatt‹ eine eigentümliche Stellung ein. Die als elektronische Datei verschickte Zeitschrift wurde 2011 ins Leben gerufen, nachdem die Herausgeber der Wochenschrift ›Das Goetheanum‹ verkündet hatten, dass die Nachrichten für Mitglieder – bekannt als: ›Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht‹ – nicht mehr als wöchentliche Beilage erscheinen, sondern in den öffentlichen Teil integriert werden sollten. Damit war nach Auffassung der Initiatoren eine spezifische Korrespondenz für Mitglieder, wie sie von Rudolf Steiner angeregt worden war, nicht mehr gegeben. Dass die Wochenschrift überwiegend von Mitgliedern gelesen wird und umgekehrt ›Ein Nachrichtenblatt‹ auch von Nichtmitgliedern bezogen werden kann, hielt die Initiatoren nicht davon ab, zu erklären: »Wir setzen mit der damit gekennzeichneten Veröffentlichungsform ›spezifisch für Mitglieder‹ [...]an einer Arbeitsrichtung an, welche durch eine offizielle Mitgliederbeilage – gemeint ist die wöchentliche, nun in die Wochenschrift hineinfusionierte – nicht mehr betreut wird. Es ist nicht möglich, etwas zu konkurrenzieren, was nicht existiert.«[1] Führt man sich überdies vor Augen, dass alle deutschsprachigen Landesgesellschaften eigene Mitteilungsblätter herausgeben und regelmäßig ›Anthroposophie weltweit‹ als internationales Nachrichtenblatt für Mitglieder der Wochenschrift beiliegt, drängt sich der Eindruck auf, hier werde weniger eine Lücke gefüllt als Haarspalterei betrieben.
Der eigentliche Unterschied zwischen ›Das Goetheanum‹ und ›Ein Nachrichtenblatt‹ – und, wie man vermuten darf, ein wichtiges, wenn auch unausgesprochenes Motiv der Initiatoren – ist in der inhaltlichen Ausrichtung zu suchen. Halb Dissidentenblatt, halb orthodoxe Enzyklika und nicht unsympathisch gefärbt von eidgenössischem Eigensinn, vertritt das ›Nachrichtenblatt‹ sozusagen den Standpunkt der konservativen Revolution innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft. Das kann als anregend oder als ärgerlich empfunden werden. Problematisch ist allerdings, dass sich das ›Nachrichtenblatt‹ auch der konservativen Revolution innerhalb des allgemeinen politischen Lebens verbunden zu fühlen scheint.
In ›Ein Nachrichtenblatt‹ 17/2017 ist ein Beitrag mit dem Titel: ›Eine Gegenerklärung zur Angst des Bundes der Freien Waldorfschulen vor Rassismusvorwürfen‹ von Caroline Sommerfeld erschienen. Parallel dazu wurde er auch im Septemberheft des Schweizer Monatsmagazins ›Agora‹ – das mit dem Motto: ›Transzendentes zur Zeitlage‹ wirbt – abgedruckt. Die Autorin stellt sich darin als »Philosophin und Waldorfschulmutter « vor. In der Tat ist die 1975 geborene Sommerfeld eine promovierte Philosophin, deren 2003 vorgelegte Dissertation ›Wie moralisch werden? – Kants moralistische Ethik‹ mit dem Karl Alber-Preis ausgezeichnet und in der FAZ als bahnbrechende Leistung gewürdigt wurde.[2] Seither ist Sommerfeld als Betreiberin eines Internet-Blogs mit dem adornitischen Namen ›fauxelle – Blicke unter den Verblendungszusammenhang‹[3] sowie als Autorin der rechtsintellektuellen Zeitschrift ›Sezession‹ hervorgetreten.[4] Sie lebt gegenwärtig in Wien und gehört dort der als rechtsextrem eingestuften Identitären Bewegung an.[5]
Unerklärte Gegenerklärung
Was diesen Hintergrund angeht, werden die Leser des ›Nachrichtenblatts‹ indes völlig im Dunkeln gelassen. Auf der Website der ›Sezession‹ hingegen hat Sommerfeld ihre ›Gegenerklärung‹ mit einem erläuternden Vorspann veröffentlicht, der ihre Motive ins Licht setzt. »Im Februar diesen Jahres«, berichtet sie dort, »hat mich der Vorstand meiner Waldorfschule als Schulköchin aus dem Amt entfernt, da ich ›auf rechtsradikalen Internetseiten‹ schreibe. Zuerst wurde versucht, dies im Schulverein überhaupt nicht zu kommunizieren, was nicht leicht ist, wenn die Köchin plötzlich weg ist. In der Generalversammlung habe ich den Vorfall dann selber aufs Tapet gebracht, man sah das jedoch als mein ›Problem, hier Küche und Politik zu vermischen‹, an. Bei der nächsten Generalversammlung beantragte ein Vater die lückenlose Aufklärung über den Fall Caroline Sommerfeld – der erste Held. Ihm schlug nur Verachtung entgegen, er möge bitte die ›Wiener Erklärung gegen Rassismus und Diskriminierung‹ lesen, dann wisse er, daß meine Gedanken an dieser Schule keinen Platz hätten.« Kurz darauf habe der Vorstand mitgeteilt, dass ab dem nächsten Schuljahr alle Eltern die ›Wiener Erklärung‹ zu unterschreiben hätten, »um mißverständliche Interpretationen zu vermeiden«.[6]
Sicherlich lässt sich darüber streiten, ob die Position einer Schulköchin politisch so sensibel ist, dass sie nicht mit einer Identitären besetzt werden darf, und ob der Vorstand die Schulgemeinschaft in den Entscheidungsprozess nicht besser hätte einbinden können. Ohne diesen Hintergrund sind die Ausführungen Sommerfelds in jedem Fall kaum richtig einzuordnen.
Die Redaktion des ›Nachrichtenblatts‹ hat sich stattdessen dafür entschieden, der ›Gegenerklärung‹ historische Dokumente voranzustellen, die Mathilde Scholls selbstlosen Einsatz für die Anthroposophie bezeugen, darunter einen von ihr verfassten ›Aufruf an die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft zur aktiven Abwehr und Stellungnahme gegenüber der öffentlichen Hetzkampagne gegen Rudolf Steiner‹ aus dem Jahre 1917. Sommerfeld wird dadurch in eine Reihe mit Mathilde Scholl gestellt. Zu allem Überfluss schreibt Peter Selg in einer Einleitung zu den besagten Dokumenten, dass »direkte Linien der damaligen Argumentationsmuster und Strategien sich bis in die Zeit des Nationalsozialismus und den Kampf der rechten völkischen Gruppen gegen Steiner und bis in die aktuelle Gegenwart fortsetzen«.[7] Dass die Argumentationsmuster und Strategien eben dieser völkischen Gruppen sich heutzutage in der Identitären Bewegung fortsetzen, zeigt auch die solcherart eingebettete ›Gegenerklärung‹.
Äußerlich gesehen bezieht sich die ›Gegenerklärung‹ auf die bereits vor zehn Jahren verabschiedete ›Stuttgarter Erklärung‹ des Bundes der Freien Waldorfschulen. Diese »sollte und soll immer noch den unseligen Disput über Rassismus bzw. des anhand von Aussagen aus seinem Werk des Rassismus bezichtigten oder verdächtigten Steiner beenden helfen, aber damals wie heute wird darin Rudolf Steiners Freiheitsgedanke konterkariert«,[8] meint Sommerfeld. Denn die ›Stuttgarter‹ – und die wortgleiche ›Wiener Erklärung‹ – »verraten und verkaufen Steiners Idee der Freiheit des Geisteslebens. Diese besteht gerade nicht darin, sich vor den Karren einer bestimmten politischen Ideologie spannen zu lassen, und komme sie auch noch so ›freiheitlich-demokratisch‹ und ›weltoffen‹ daher. Wer tritt schon für ›Diskriminierung‹, ›Nationalismus‹ und ›Rassismus‹ ein? Niemand. Denn diese Wörter sind inhaltsleere Sortierungsschablonen für das, was an Waldorfschulen ›nicht geduldet‹ wird.« Der eigentliche Inhalt dieser ›Erklärungen‹ sei vielmehr: »[W]ir sind mit der Politik der Elite einverstanden und wollen auf keinen Fall abweichen. Und wenn Aussagen Rudolf Steiners den Zielen der Elite widersprechen sollten, dann distanzieren wir uns von diesen. Hier müssen wir eine Versteifung der Sprache zu Leerformeln [...] erkennen und das Denken davon befreien.«
Ein Appell an die Freiheit des Geisteslebens fällt unter Anthroposophen unfehlbar auf fruchtbaren Boden – und Sommerfeld verbindet damit durchaus vernünftige Gedanken, etwa: »Ein freier Umgang mit politischen Überzeugungen und Weltanschauungen innerhalb einer Schulgemeinschaft sähe so aus, daß sie als individuelle Ideen verstanden werden, und in einem nicht-politischen Rahmen des freien Geisteslebens unter Erwachsenen diskutiert werden. Das Schulganze, die Kinder und die offiziellen Richtlinien der einzelnen Waldorfschule müssen davon unbehelligt bleiben.« Und grundsätzlich ist es auch richtig, wenn sie schreibt: »Rudolf Steiners Ideen zu ›Rasse‹, ›Volk‹ und Individuation im Gang der Kulturepochen und des geistigen Widerspiels von Verwurzelung und Freiheitsstreben sind zu komplex, um aus ihnen eindeutige politische Bekenntnisse zu destillieren. « Schwieriger wird es allerdings, wenn sie anschließend das benennt, was ihr als weltanschauliche Schnittmenge zwischen Anthroposophie und Identitärer Bewegung erscheinen mag: »Statt der politisch durchsichtigen ›Diskriminierung‹ von ›Rassismus und Nationalismus‹ führen wir uns das Bekenntnis zur eigenen Kultur und Identität und eine Bejahung der Vielfalt, Freiheit und Integrität der Völker vor Augen, Steiner nannte dies ›die Volksseelen‹. Im Geist der ganzheitlichen Sicht Rudolf Steiners stellt die Verwurzelung in Tradition, Heimat, Volk und Kultur einen unverzichtbaren Teil der individuellen Identität dar, und bildet die Voraussetzung zu deren positiver Befreiung und Weiterentwicklung.«
Wenn man sich fragt, woher die Affinität rechtsgerichteter Milieus mit Anthroposophie und Waldorfpädagogik herrührt, findet man hier eine mögliche Antwort. Freilich fehlt der entscheidende Hinweis, dass die Volksseelen mit dem Wirken der Volksgeister zusammenhängen, und »dass gerade das deutsche Wesen immer universeller bleiben [muss] als andere Volkswesen«, weil der eigene Volksgeist mit dem deutschen Volk weniger tief und eng verbunden ist als bei anderen Völkern: »Ein solches Kristallisieren in der Nationalität, wie bei den westlichen Völkern, kann beim deutschen Volke durch die Eigentümlichkeit des deutschen Volksgeistes gar nicht eintreten.«[9] Als Erzengel- Wesen sind die Volksgeister überdies mit dem menschheitlichen Christus-Impuls verbunden, weshalb der sogenannte »Volksseelenzyklus« mit einem Ausblick auf die neue Christus-Offenbarung im Ätherischen ausklingt. Da heißt es z.B.: »Und wenn der Buddhismus nur als Buddhisten gelten läßt diejenigen, welche auf Buddha schwören, dann wird das Christentum dasjenige sein, das auf keinen Propheten schwört, weil es nicht unter dem Eindruck eines völkischen Religionsstifters steht, sondern den Menschheitsgott anerkennt.«[10] Es darf bezweifelt werden, dass Sommerfeld für diese Aspekte der anthroposophischen Volksseelenlehre besonders empfänglich ist. Immerhin hat sie in ihrem ›fauxelle‹-Blog einen Beitrag veröffentlicht, in dem sie mit formallogischen Argumenten zu beweisen sucht, dass mit Art. 1 Satz 1 des Grundgesetzes – »Die Würde des Menschen ist unantastbar« – eigentlich nur die Würde des Deutschen gemeint sei.[11]
Leerer Protest gegen Leere
Von ähnlicher Qualität ist ihr Versuch, die ›Stuttgarter Erklärung‹ als Ansammlung von »Leerformeln« darzustellen. Besonders anstößig findet sie offensichtlich folgende Passage: »Die Anthroposophie als Grundlage der Waldorfpädagogik richtet sich gegen jede Form von Rassismus und Nationalismus. Die Freien Waldorfschulen sind sich bewusst, dass vereinzelte Formulierungen im Gesamtwerk Rudolf Steiners nach dem heutigen Verständnis nicht dieser Grundrichtung entsprechen und diskriminierend wirken. Weder in der Praxis der Schulen noch in der Lehrerausbildung werden rassistische oder diskriminierende Tendenzen geduldet. Die Freien Waldorfschulen verwahren sich ausdrücklich gegen jede rassistische oder nationalistische Vereinnahmung ihrer Pädagogik und von Rudolf Steiners Werk.«[12]
Sommerfeld behauptet nun, das Wort Rassismus sei »bedeutungsleer, weil der Begriff einerseits voraussetzt, es gäbe überhaupt keine menschlichen Rassen (weshalb sie zu benennen ›rassistisch‹ ist), andererseits aber ständig auf die Rassekategorie aufmerksam machen muß«. Das ist nicht ganz richtig. Zwar gibt es tatsächlich die Tendenz, schon die bloße Verwendung des Wortes »Rasse« als Symptom einer rassistischen Gesinnung zu brandmarken; streng genommen bezeichnet »Rassismus« aber die Ableitung soziokultureller Phänomene aus biologischen Ursachen bzw. die Bildung von Vorurteilen gegenüber bestimmten ethnischen Gruppen und deren Diskriminierung aufgrund ihnen gemeinsamer physischer Merkmale. Sich dagegen auszusprechen ist keineswegs bedeutungsleeres Wortgeklingel.
Ebenfalls für widersinnig erklärt Sommerfeld die Idee, »Nichtdiskriminierung wäre denkmöglich. Die Dinge existieren nur durch ihre Differenz, lat. discriminare heißt: unterscheiden. Es ist selbstwidersprüchlich, gegen ›Diskriminierung‹ aufzutreten, und im gleichen Akt diejenigen zu diskriminieren (d.h. aus dem sozialen Leben auszugrenzen), deren Unterscheidungen man für falsch hält.« Wenn »Diskriminierung« bedeutet, andere »aus dem sozialen Leben auszugrenzen«, dann ist Nichtdiskriminierung aber sehr wohl möglich. Sommerfeld, die sich mit gutem Grund in diesem Sinne diskriminiert fühlt, arbeitet hier parallel mit zwei Definitionen: Was ihr vorgeworfen wird, erklärt sie für bloßes Unterscheiden, was ihr widerfahren ist, hingegen für Ausgrenzung. Diese doppelgleisige Argumentation ist genauso fragwürdig wie die Praxis, gegen die sie sich wendet.
Und zum Begriff des Nationalismus bemerkt Sommerfeld, dieser bedeute »eigentlich, die eigene Nation über andere Nationen zu erheben, insoweit die Endung ›-istisch‹ eine falsche Übersteigerung markiert. Mit dieser Vokabel nun alles ›Nationale‹, d.h. auf einen Staat bezogene, als ebenso falsch zu markieren, gebraucht dieselbe Übersteigerung, nur andersherum.« So richtig dieser Punkt für sich genommen ist, so falsch ist er in diesem Zusammenhang, denn die ›Stuttgarter Erklärung‹ markiert keineswegs alles Nationale als falsch. Hier wird eine Anpassung beklagt, die gar nicht stattfindet. Insofern wird man sagen dürfen, dass nicht die Formulierungen der ›Stuttgarter Erklärung‹ leer sind, sondern die gegen sie erhobenen Argumente.
Verfehlte Vergleiche
Wirklich beunruhigend an alledem ist aber nicht die Tatsache, dass ein Mitglied der Identitären Bewegung so denkt und argumentiert, sondern dass ein solcher Text in gleich zwei anthroposophischen Zeitschriften Eingang findet – ein Text, der überdies einen scharfen Angriff gegen die etablierte Anthroposophie enthält. Deren institutionelle Strukturen seien »zu einem Ideologieapparat gewuchert«, behauptet Sommerfeld: »Dieser Apparat sieht seine Loyalität nicht in der Freiheit des Geisteslebens, sondern in vorauseilendem Gehorsam gegenüber der ›Offenen Gesellschaft‹: Ökonomisierung aller Bereiche, Computerisierung, Internationalisierung, ›Integration‹, weg von lokal gewachsenen, hin zu einer globalen ›Einheitskultur‹.« Ähnliche Töne hatte Sommerfeld zuvor schon in einer ausführlichen Kritik des Aprilhefts der Zeitschrift ›Info3‹ angeschlagen: »Die Anthroposophen – das vorliegende Heft ist kein Abweichlertum, das ›Freie Geistesleben‹ ist organisatorisch ziemlich homogenisiert – haben Steiners Freiheitsbegriff mir nichts, dir nichts, an Clinton und Soros verraten und verkauft. Pfui Teufel, oder auch Ahriman!«[13]
Gerade diese undifferenzierte, durch keinerlei Sach- oder Personalkenntnis getrübte Verurteilung des anthroposophischen Establishments scheint aber für die Redaktion des ›Nachrichtenblatts‹ ein Motiv gewesen zu sein, die argumentativ so schwache ›Gegenerklärung‹ überhaupt abzudrucken. Jedenfalls schloss in der folgenden Ausgabe Martin Barkhoff an genau diese Kritik an, indem er daran erinnerte, dass die Berliner und die Dresdner Waldorfschule angesichts der nationalsozialistischen Unterdrückung unterschiedliche Wege gegangen seien: »Die Regierung legte 1938 in einer Sprechvorschrift fest, mit welchen Grussworten die Schüler morgens zu begrüssen seien. Die Lehrer der Berliner Waldorfschule wollten so nicht unterrichten. Sie beschlossen die geordnete Schliessung der Schule. Ein nur zwei Worte umfassendes Ideologiebekenntnis reichte ihnen aus, um die ganze Schule aufzugeben.« Die Dresdner hingegen verzögerten durch Kompromisse und die Pflege ihrer Kontakte zum Regime die Schließung um vier Jahre: »Nach dem Ende der Meinungsdiktatur erschwerte die Dresdener Lösung einen Neuanfang. Die beispielhafte Gradlinigkeit der Berliner (und der Stuttgarter usw.) machte den Neustart möglich und kraftvoll.« So weit, so gut. Dann aber heißt es: »Anders als damals gehen heute die anthroposophischen Institutionen mehrheitlich den Dresdener Weg. Der künftige Neustart wird daher nach dem Ende der neueren Meinungsdiktatur kaum aus der Kontinuität erfolgen können, wie es noch nach ’45 möglich war.«[14]
Eigentlich müssten die Leser des ›Nachrichtenblatts‹ nur ein paar Seiten weiterblättern, um die Ungeheuerlichkeit dieses Vergleichs einzusehen. Dort beschreibt Peter Selg eindringlich einen Besuch in Belgien, wo ihm unvermutet die »Bilder des Ersten Weltkrieges und des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf das Nachbarland – mit furchtbaren Gräueln« aufstiegen: »Nun aber war ich plötzlich hier – in der deutschen Tragödie des 20. Jahrhunderts, die zugleich eine europäische war und ist. Und in der Gegenwart eines Jahres, das erneut von paneuropäischem Nationalismus, sich schließenden Grenzen und einer ›großen Regression‹ gesellschaftspolitischer Art geprägt war, die noch vor Jahren undenkbar erschien – hier, im ›freiheitlichen‹ Europa.«[15]
Es ist genau dieser »paneuropäische Nationalismus «, diese »große Regression«, mit der sich Martin Barkhoff und die Redakteure des ›Nachrichtenblatts‹ in ihrem Protest gegen die etablierte Anthroposophie leichtfertig gemein machen. Was hier mit rhetorischen Sturmgeschützen und logischen Taschenspielereien als »freies Geistesleben« verteidigt wird, ist letzten Endes die Lizenz, keine Rücksicht auf die durch historische Erfahrungen gewachsene Sensibilität gegenüber Rassismus und Nationalismus zu nehmen und ungeniert von »Wurzelrassen« und »Volksseelen« zu sprechen, ohne sich die Mühe zu machen, diese missverständlichen Ausdrücke einem heutigen Publikum zu erläutern und nahezubringen (oder sie selbst erst einmal richtig zu verstehen). Differenzierung von Intention und Ausdrucksweise bedeutet keine Distanzierung – nur für die, denen vor lauter Pochen auf ihre Freiheit der Geist abhandenkam und die vergessen haben, wer im ›Faust‹ den Rat gibt, man solle »auf des Meisters Worte« schwören und sich nicht »ängstlich« mit Begriffen quälen. Solche Treue zum überlieferten Wort wird zum Verrat am lebendigen Begriff, so wie die von den Identitären hervorgekehrte Heimatliebe sich allzu leicht zum Fremdenhass verhärtet. Die Auseinandersetzung mit jenen, die Rudolf Steiner als völkischen Ideologen verunglimpfen, wird nicht dadurch gewonnen, dass man sich trotzig denen in die Arme wirft, die wirklich welche sind.
[1]www.iea-enb.com/intentionen/konkurrenz/
[2] Vgl. Michael Pawlik: ›Je zivilisierter desto schauspielerischer‹, in: ›Frankfurter Allgemeine Zeitung‹ vom 27. Juni 2005, S. 38.
[3]https://fauxelle.wordpress.com/
[4]https://sezession.de/author/48/caroline-sommerfeld
[5] Vgl. www.unzensuriert.at/content/0023909-Nach-Gruber-Attacke-Jetzt-spricht-die-Aktivistin-Der-Hass-seinem-Blick-hat-mich
[6]https://sezession.de/57363/eine-gegenerklaerung
[7] Peter Selg: ›Vorbemerkung‹, in: ›Ein Nachrichtenblatt‹ Nr. 17 / 27. August 2017, S. 6.
[8] Caroline Sommerfeld: ›Eine Gegenerklärung zur Angst des Bundes der Freien Waldorfschulen vor Rassismusvorwürfen‹, in: a.a.O., S. 12-14.
[9] Rudolf Steiner: ›Menschenschicksale und Völkerschicksale‹ (GA 157), Dornach 1981, S. 224.
[10] Ders.: ›Die Mission einzelner Volksseelen‹ (GA 121), Dornach 1982, S. 198f.
[11] Vgl. https://fauxelle.wordpress.com/2017/03/02/merkels-logik/
[12]https://www.waldorfschule.de/ueber-uns/printmedien/broschueren/erklaerungen/stuttgarter-erklaerung
[13]https://sezession.de/57210/
[14] Martin Barkhoff: ›Berliner und Dresdener Lösung‹, in: ›Ein Nachrichtenblatt‹ Nr. 18 / 10. September 2017, S. 1f.
[15] Peter Selg: ›Lichtzeichen in finsterer Zeit – Belgien, 2017‹, in: a.a.O., S. 4.