Rezension: Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945)
Nationalsozialismus und die Anthroposophie
Die nationalsozialistische Ideologie mit ihren sozialdarwinistischen Theorien, ihrem Rassismus und der Bewertung von Blut und Boden stieß sich schon früh am anthroposophischen Gedankengut. Bereits 1935, zwei Jahre nach der Machtübernahme, wurde die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland verboten. Schon 1933 erschienen die ersten grundsätzlichen Angriffe in der Presse.
Der erste Teil des hier angezeigten Buches stellt die Jahre von 1933 bis 1936 dar: die Verteidigung der Lehre und der Früchte des Wirkens Rudolf Steiners. Ein zweiter Teil behandelt die Zeit 1936/37 bis 1939/40. Ein dritter Teil umfasst die Zeit von 1940/41 bis 1945 und enthält auch eine Darstellung der Gestapo-Aktion am 9.Juni 1941.
Der Verfasser kann auf eine hervorragende Quellenlage zurückgreifen. ln detaillierten Fußnoten und in einem Anhang von fast 90 Seiten mit Anlagen werden Dokumente wiedergegeben, deren Lektüre zu einem bewegenden Ereignis wird. Christoph Lindenberg, der kürzlich verstorbene, weithin bekannte Historiker und Biograph Rudolf Steiners, hat beim Verfassen des Buches noch mitgewirkt. Auch das Institut für Zeitgeschichte in München war helfend damit befasst, und der Druck konnte mit Unterstützung des Förderungs-und Beihilfefonds der wissenschaftlichen Verwertungsgesellschaft »Wort« erfolgen – Ausdruck einer guten Zusammenarbeit der verschiedenen Einrichtungen. Gedankt wird unter anderen auch Dagmar von Wistinghausen, die in jahrelanger selbstloser Arbeit in den europäischen Archiven die entscheidenden Dokumente herausgesucht und aufbereitet hat. Einige Eindrücke gebe ich wieder:
- Fast alle Machthaber der nationalsozialistischen Partei und der SS im Dritten Reich sind mit der Anthroposophie und später der Christengemeinschaft befasst gewesen.
- Trotz der Kleinheit der Bewegung – die Christengemeinschaft umfasste im damaligen Deutschland etwa 5000 Seelen – fühlten die Machthaber die Gefahr, die für sie von einer Weitsicht ausging, welche die Würde der einzelnen Person, die Freiheit und Selbstverantwortung des Menschen, die Ablehnung jeder Rassentheorie mit einer vertieften Sicht der geistigen Welt verbindet.
- Bis auf Ausnahmen haben sich die Repräsentanten der verschiedenen Einrichtungen mit seelischem Mut bewährt.
- Herausragend sind neben den Verhandlungsführern für die Christengemeinschaft Friedrich Rittelmeyer, Alfred Heidenreich und Eduard Lenz – auch einzelne Mitglieder, die Beruf und Stellung ohne Rücksicht zugunsten eines Eintretens für die Sache und gegen ein mögliches Verbot einsetzten. Genannt sei die damals berühmte Kammersängerin Maria Fuchs, Mitglied der Dresdner Gemeinde, Hellmuth von Ruckteschell, der Kommandant eines Hilfskreuzers, und der Korvettenkapitän und Ritterkreuzträger Hans Erdmenger, die mit ihren Eingaben bis zum Großadmiral Raeder vordrangen.
Die Christengemeinschaft wird zunächst für die Zeit von 1933 bis 1936 geschildert: mit dem schon früh geplanten Verbot durch die Gestapo, dann aber dem Übergang in die Zuständigkeit des Reichs- und preußischen Ministeriums für die kirchlichen Angelegenheiten. Im dritten Teil wird das Verbot am 9. Juni 194 I und die Verhaftung der Pfarrer dargestellt. Ein eigener Abschnitt ist dem Vorgehen der Gestapo gegen den Verlag der Christengemeinschaft gewidmet.
Im ernsten Rückblick auf diese Zeit werden auch manche grotesken Situationen angeführt. So hat sich der Parteiredner Schöntal zu Silvester 1933 als Hörer einer Predigt von Rittelmeyer, dem damaligen Erzoberlenker der Christengemeinschaft, eingefunden. In Hetzvorträgen behauptete er später öffentlich, der Priester habe einen Freimaurergruß mit charakteristischer Handhaltung praktiziert (er meinte den Segensgestus innerhalb der Menschenweihehandlung): » ... der saubere Herr Rittelmeyer habe die Unverfrorenheit, den Hitlergruß zu sabotieren und einen neuen Gruß stattdessen einzuführen ... «. In der Anlage bewegt der Bericht von Marie Reuter »Vom Anfang der Verbotszeit der Christengemeinschaft« durch die Standhaftigkeit, die Klarheit und den Mut jener Frau, die acht Tage vor dem Verbot, am Pfingstsonntag 1941, als letzte die Priesterweihe empfing.
Die Darstellung der furchtbaren Zeit enthält farbige, anschauliche Schilderungen menschlicher Ereignisse. Die Beurteilung ist zurückhaltend. Dem Verfasser geht es darum, die Ereignisse und das Verhalten der Persönlichkeiten jener Zeit möglichst präzise phänomenologisch darzustellen. Wer die Zeitgeschichte der Jahre von 1933-1945 im Wechselverhältnis zum Schicksal der Christengemeinschaft und der befreundeten Einrichtungen, die aus der Anthroposophie heraus entstanden sind, studieren will, wird in diesem Buch reiche Belehrung und gründliche Orientierung finden.
Uwe Werner. Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945), unter Mitwirkung von Christoph Lindenberg, brosch., 473 Seiten, Oldenbourg Verlag, München 1999
Der Text erschien zuerst in: Die Christengemeinschaft, 1999,