"...ein Fehler der Weltgeschichte"?
Judentum, Zionismus und Antisemitismus aus der Sicht Rudolf Steiners. Zusammenfassung eines Artikels, der auf "hagalil.com", einer Website über jüdisches Leben in Deutschland, veröffentlicht wurde.
Rudolf Steiners Haltung zum Judentum wies viele Facetten auf und lässt sich somit nur schwer auf einen Nenner bringen. Seine Einstellung zum vorchristlichen Judentums war von Wertschätzung dieses kulturellen Impulses geprägt: Der gesamte Zivilisationsprozess beruhe, so Steiner, auf dem mentalen und ethischen Erbe der Patriarchen Abraham und Moses, die er als Initiierte, als Eingeweihte betrachtete. Im alten Hebräertum seien die ersten Keime für die Ichwerdung und Gewissensbildung veranlagt worden, welche gewissermaßen der europäisch-christlichen Bewusstseinsentwicklung als Matrix eingeschrieben seien.
Als 27-jähriger Rezensent des »Homunkulus« von Robert Hamerling beurteilte er hingegen das Fortbestehen des Diasporajudentums als einen »Fehler der Weltgeschichte«. Er hielt zudem die Schaffung eines jüdischen Staates in Palästina, wie sie den zionistischen Akteuren Theodor Herzl und Max Nordau vorschwebte, für eine unrealistische, zum Nationalismus verführende politische Utopie. Steiner trat stattdessen für die Assimilation der europäischen Juden ein, da »die Juden Europa brauchen und Europa die Juden«. Zunächst unterschätzte er noch die Gefahr des Antisemitismus, um sein anfängliches Fehlurteil wenige Jahre später zu korrigieren. Um 1900 engagierte er sich für den Berliner »Verein zur Abwehr des Antisemitismus« und schrieb eine Reihe von Beiträgen, in denen er den Rassenantisemitismus scharf kritisierte und die demagogische Verführungsgewalt seiner Protagonisten anprangerte.
Der spätere, als Anthroposophiebegründer bekannt gewordene Steiner äußerte sich – im Unterschied zu dem jüngeren – differenzierter zum Diasporajudentum und gestand diesem innerhalb des christlich geprägten Europa eine eigene spirituelle »Mission« zu. Allerdings hielt er an der Auffassung fest, dass jüdisches Leben ein Anachronismus sei und die Juden gut daran täten, sich vollständig zu assimilieren. Eine Unterscheidung zwischen dem orthodoxen und einem aufgeklärt-liberalen Judentum findet man in seinen spärlichen Kommentaren zur jüdischen Kultur und Religion nicht, weshalb Kritiker dem Autor der »Philosophie der Freiheit« eine antijudaistische Grundhaltung attestieren, die dieser mit den Philosophen der Aufklärung und des deutschen Idealismus geteilt habe.
Der nachfolgend verlinkte Aufsatz von Ralf Sonnenberg erschien 2003 in dem von Wolfgang Benz herausgegebenen »Jahrbuch für Antisemitismusforschung«, wurde dann auf der Website HaGalil. Jüdisches Leben online publiziert und in den Folgejahren von dem Autor einige Male überarbeitet und ergänzt. Der kritische Beitrag stellt der erste Versuch eines anthroposophisch orientierten Historikers und Religionswissenschaftlers dar, sich mit dem bis heute kontrovers diskutierten Gegenstand anders als im Duktus der apologetischen Abwehrhaltung auseinanderzusetzen.
hagalil.com/antisemitismus/deutschland/steiner
Ralf Sonnenberg, geb. 1968 in Münster. Studium der Neueren Geschichte, Religionswissenschaft und Philosophie in Berlin und Marburg. Ab 1997 Veröffentlichungen zu zeitgeschichtlichen und erkenntnismethodischen, vor allem die Anthroposophie betreffenden Fragestellungen.