Sprachliche und historische Kriterien zum Rassismusvorwurf
Beitrag aus der Zeitschrift "Anthroposophie", Ausgabe Weihnachten 2007.
Die öffentlichen Rassismusvorwürfe der jüngsten Vergangenheit gegenüber einzelnen Passagen aus dem Vortragswerk Rudolf Steiners sind schockierend! Schockierend, weil sie als isolierte Zitate tatsächlich schlimm klingen, und schockierend, weil die von Kritikern insinuierte Interpretation im krassen Gegensatz zu den Grundideen seiner Anthroposophie steht. Beim Nachdenken über die impliziten Maßstäbe der Beurteilung fällt auf, dass die kritisierten Stellen aus dem Werk Steiners gar nicht oder nur selten in Verhältnis zu den zahlreicheren Wortlauten gesetzt werden, die das genaue Gegenteil aussagen. Der Blick auf Steiners universalen Humanismus wird dadurch verstellt. Ferner werden Steiners Redeweisen, wenn sie tatsächlich korrekt überliefert sind, losgelöst von den Problemen des sprachlichen Wandels und des geschichtlich bedingten wissenschaftlichen Fortschrittes betrachtet, die sich auch bei anderen kulturwirksamen Denkern zeigen. Aus der Suche nach Kriterien, die eine sachgerechte Einschätzung vor allem des letzten Punktes im Kontext moderner universalistischer Werte erlauben, sind die nachfolgenden Überlegungen entstanden.
Universalistische Werte als historische Errungenschaft
Die Ausbildung universalistischer, ethischer und gesellschaftlicher Maßstäbe wie z.B. die prinzipielle Gleichwertigkeit aller Menschen vor dem Gesetz, die Freiheit der Religionsausübung sowie die Bejahung fundamentaler demokratischer Grundstrukturen ist eine der großartigsten gesellschaftlichen Errungenschaften der Neuzeit, wenn sie auch Vordenker und Vorläufer in der Antike und im Mittelalter kennt und wenn auch viele dieser Ideen in der heutigen, sich zivilisiert nennenden Welt vielfach noch nicht umgesetzt wurden. Als gesellschaftliche Konzepte und Ideen sind sie aber in den westlichen Demokratien gesetzlich verankert und verbürgt und beeinflussen nachhaltig das öffentliche Gewissen.
Einer der wichtigen Bestandteile dieser Errungenschaft in den westlichen Demokratien ist die Nichtdiskriminierung von Menschen aufgrund von Geschlecht, Hautfarbe, Abstammung oder Behinderung. Dass allein die Gleichstellung der Frau in der Gesellschaft in der Vergangenheit nur zögerlich vorangekommen ist, belegen viele Tatsachen wie die, dass z.B. noch im Nachkriegsdeutschland Frauen häufig gar keinen eigenen Pass hatten, sondern wie Kinder nur im Pass ihres Ehemanns geführt wurden, oder Kinder von einer deutschen Frau und einem Nichtdeutschen bis 1974 kein Recht auf eine deutsche Staatsangehörigkeit hatten, sondern nur, wenn der Vater auch Deutscher geworden war. Die Schweiz hat erst sehr spät im 20. Jahrhundert in allen Kantonen das Wahlrecht für Frauen eingeführt. Auch die Überwindung der Benachteiligung von Menschen mit Behinderung oder der Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer ethnischen Wurzeln ist noch nicht geglückt. Dennoch sollten diese Tatsachen nicht über die realen Fortschritte auf diesem Gebiet hinwegtäuschen. Ebenso wenig sollten die in Deutschland in den letzten Jahren immer wieder von Augenzeugen mit viel Passivität hingenommenen abscheulichen Hetzjagden auf Ausländer als Beweis dafür genommen werden, dass es in der deutschen Gesellschaft keinen breiten gesellschaftlichen und politischen Grundkonsens gegen die Diskriminierung gibt. Im Gegenteil: Gerade die deutsche Gesellschaft ist aufgrund bitterster historischer Erfahrungen und ihrer bislang nur partiell gelungenen Aufarbeitung des Nationalsozialismus besonders sensibel geworden für mögliche Gefährdungen ihrer Grundwerte. Vor allem ist auch ein Bewusstsein dafür entstanden, dass der realen politischen und gesellschaftlichen Diskriminierung, die oft scheinbar harmloser wirkende rhetorische Diskriminierung vorangeht. Dieses Bewusstsein von der Gefährlichkeit des diskriminierenden Diskurses ist ein Produkt allmählicher gesellschaftlicher Entwicklung und war vor der Aufarbeitung des Nationalsozialismus kaum vorhanden. Zur Sensibilisierung in dieser Frage haben im Nachkriegsdeutschland sicherlich auch die legendären verbalen Entgleisungen des früheren Bundespräsidenten Heinrich Lübke einen Anstoß gegeben. Nach Einschätzung von Experten[1] wäre es zwar übertrieben, Lübke als Rassisten einzustufen, aber sein Beispiel lehrt, wie die Bedeutung und das Gewicht von Worten und Redeweisen, die heute eindeutig diskriminierend konnotiert sind, früher auch anders empfunden oder aufgefasst wurden und das gesellschaftliche Gewissen für ihre diskriminierende Wirkung erst nach und nach entstanden ist.
Diese Tatsache wird leider oft nicht genügend berücksichtigt und in der Retrospektive werden die Probleme, die sich aus dem Wandel der Sprache und der zeit- und kontextspezifischen Semantik von Wörtern und Ausdrucksstilen ergeben, vielfach unterschätzt. Das begünstigt dann die nachträgliche Verunglimpfung und Verurteilung von Persönlichkeiten in kulturtragenden Funktionen, die sogar Vorreiter auf dem Weg zu einer offenen Gesellschaft waren. Dieses Problem soll weiter unten u.a. am Beispiel Albert Schweitzers, Rudolf Steiners, Immanuel Kants und Hegels gezeigt werden.
Sprachlicher Wandel
Die Sprache ist ein höchst bewegliches und komplexes Geschehen. Ein Wort einer Nationalsprache, zu unterschiedlichen Zeitpunkten oder an unterschiedlichen Orten gesprochen, kann eine konträre Bedeutung bekommen auch je nachdem, wer es verwendet. Das Wort «Deutscher» bedeutet für einen Deutschen «Inländer», für einen Österreicher oder Schweizer «Ausländer », auch wenn sie die gleiche Sprache sprechen. Für einen Deutschen mit zwei Staatsangehörigkeiten bedeutet das Wort wieder etwas anderes und vor der Reichsgründung 1871 war es ein Begriff, der für viele Dichter und Denker auf die Zugehörigkeit zu einer sprachlich- kulturellen Region hindeutete, weil es einen deutschen Nationalstaat in der heutigen Form noch gar nicht gab. Das Wort «Busen» bezeichnete zur Zeit Goethes die Brust von Männern und Frauen und bedeutete poetisch auch «Seele», heute wird es nur noch für die weiblichen Brüste verwendet. Das Wort „Vorort“ war zur Zeit der Hanse die Bezeichnung für eine führende Stadt. Ein Vorort ist heute ein Randbezirk und damit hat sich die Bedeutung so ziemlich ins Gegenteil verkehrt.
Diese und noch viele andere z.B. historische, situative und performative Aspekte muss man in Betracht ziehen, wenn es darum geht einzuschätzen, was mit einem Wort oder mit bestimmten Ausdrucksformen innerhalb eines klar umrissenen Gebrauchskontextes gemeint war oder ist. Als weiteres Beispiel mag hier auch das Wort «Weib» gelten, das in der adjektivischen Form «weiblich» heute neutral deskriptiv und auch positiv klingt, aber als Substantiv «Weib» zur Bezeichnung etwa der eigenen Ehefrau, wie vor gar nicht allzu langer Zeit durchaus noch üblich, heute nicht mehr hinnehmbar wäre, weil es zum Synonym eines sächlichen Unterordnungsverhältnisses geworden ist. Das Verständnis für den semantischen Wandel erfordert in der Schule die entsprechende Aufmerksamkeit des Lehrers, wenn er mit der deutschsprachigen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts umgeht. Andernfalls riskiert er bei seinen Schülern, dass Autoren dieser Zeit, die u.U. sogar zur Überwindung von Vorurteilen beigetragen haben, als verkappte Frauenfeinde o. ä. rezipiert werden.
Semantische Ursurpationen
Neben dem normalen, historisch bedingten semantischen Wandel hat aber besonders der Missbrauch der deutschen Sprache in der nationalsozialistischen Propaganda, aber auch im stalinistisch-sozialistischen Regime der DDR zu semantischen Ursurpationen von Ausdrücken und Redeweisen geführt, die eine naive Verwendung heute einfach nicht mehr zulassen. Ein einziges Wort kann heute, wie die unlängst von Kardinal Meissner im Kölner Dom im Zusammenhang mit der modernen Kunst gebrauchte Vokabel zeigt, zu unerhörter öffentlicher Empörung führen. Die Sensibilität für die Verbaldiskriminierung als Vorstufe der gesellschaftlichen und politischen Diskriminierung ist heute festzustellen und das ist auch gut so! Sie darf aber nicht zur Nichtbeachtung von historischen Umständen führen, in denen die Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken gesehen und interpretiert werden muss, und vor allem nicht dazu zu übersehen, dass die Befreiung von Vorurteilen und Fehleinschätzungen ein historischer Prozess ist, der auch noch lange nicht abgeschlossen ist und von dem vor allem die Zeitgenossen nicht ausgeschlossen sind. Es wäre z.B. denkbar, dass bei zunehmender Globalisierung etwa das Wort «Ausländer» irgendwann in Zukunft zu einem Unbegriff wird und seinen Sinn verliert und Texte, in denen dieser Ausdruck heute vorkommt, dann als diskriminierend gelten werden. Gleichermaßen sind auch in Zukunft politische Fehlentwicklungen nicht per se ausgeschlossen, die, ähnlich wie im Falle des Nationalsozialismus, Sprache so usurpieren, dass heute noch korrekt klingende Ausdrücke dann unmöglich werden. Texte der Gegenwart könnten sich in der Retrospektive womöglich wie Hetzschriften ausnehmen, auch wenn sie nicht als solche gedacht waren. Die retrospektive dekontextualisierende Deutung von Wörtern und Aussagen vor allem von deutschsprachigen Texten der Vergangenheit stellt somit ein gravierendes Problem dar. Die Gefahr, einem Sprecher oder einem Autor mit Blick auf historische Vorgänge des Nationalsozialismus nachträglich etwas unterzuschieben oder ihn zu diffamieren ist hier besonders groß.
Problematische Verwendung der Begriffe «Rasse» und «Neger» an historischen Beispielen
An der Verwendung der Begriffe «Rasse»[2] und «Neger»[3] in einigen literarischen und philosophischen Texten namhafter deutschsprachiger Autoren der Vergangenheit seien die Problematik und die Gefahren der dekontextualisierenden retrospektiven Interpretation exemplarisch erläutert. Dabei geht es um die Blickschärfung sowohl für mögliche diskriminierende Redeweisen als auch für das Übersehen der historischen Prägung in der Auffassung der genannten Ausdrücke für den Leser der Gegenwart.
Für manche Zeitgenossen ist die bloße Verwendung des Ausdrucks «Rasse» mit Bezug auf den Menschen schon Grund genug, von Rassismus[4] zu sprechen. Richtig daran ist, dass das Wort «Rasse» nach heutigem Stand der Wissenschaft als Subsumptionsbegriff für Menschen nicht mehr haltbar oder zumindest wissenschaftlich höchst problematisch ist.[5] Es wird in der Biologie eigentlich nur noch im Zusammenhang mit dem Tierreich verwendet. Das ist aber eine Entwicklung, die sich erst allmählich ergeben hat. In vielen Biologiebüchern der Nachkriegszeit ist dieser Begriff, mitunter sogar mit wertendem Einschlag, deshalb auch noch zu finden. Ja, sogar das deutsche Grundgesetz[6] geht heute noch davon aus, dass es Rassenunterschiede zwischen Menschen gibt, und verwendet dieses Wort explizit, natürlich mit der Intention, die Diskriminierung zu verbieten und zu verhindern. Die bloße Verwendung des Wortes Rasse als Indiz für Rassismus anzusehen, ist also sicherlich verfehlt und trägt nicht dazu bei, Vorurteile abzubauen.
Komplizierter wird es allerdings, wenn das Wort «Rasse» oder Rassebezeichnungen wie «Neger» in Zusammenhang mit wertenden Typisierungen Verwendung finden. In einem nobelpreisgekrönten literarischen Werk des 20. Jahrhunderts findet sich z.B. folgender Satz: «Denn kein einziger Mensch, auch nicht der primitive Neger, auch nicht der Idiot, ist so angenehm einfach, dass sein Wesen sich als die Summe von nur zweien oder dreien Hauptelementen erklären ließe; und gar einen so sehr differenzierten Menschen wie Harry mit der naiven Einteilung in Wolf und Mensch zu erklären, ist ein hoffnungslos kindlicher Versuch.»[7]
Der Ausdruck «primitiver Neger» in einem Atemzug mit «Idiot» genannt, klingt nicht nur schlimm, sondern ist auch schlimm, wenn er mit dem Bewusstsein gelesen wird, mit dem man ihn heute bei einem zeitgenössischen Schriftsteller lesen würde. Dieser Satz findet sich aber bei Hermann Hesse. Er ist als Pazifist und Freund des Buddhismus bekannt. Ihm wurden unter anderem 1946 der Nobelpreis für Literatur und 1955 die Friedensklasse des «Pour le Mérite» verliehen. Dass Hermann Hesse trotz dieses Satzes kein Rassist oder Antiafrikaner ist, ist jedem evident, der sein Werk kennt. Isoliert man aber solche Sätze aus dem Kontext, dem sie angehören, und vergisst man, dass zu seiner Zeit eben das Bewusstsein für die diskriminierende Konnotation dieses Ausdrucks noch nicht so vorhanden war wie heute, dann ließen sich schnell absurde Unterstellungen daraus stricken und Passagen aus seinen Schriften, die ja Gegenstand des Schulunterrichts sind, sogar auf den Index jugendgefährdender Schriften stellen.
Auch bei Albert Schweitzer (1875–1965) finden sich Äußerungen, die aus heutiger Sicht als zumindest grenzwertig eingestuft werden können: «In welcher Art mit dem Farbigen verkehren? Soll ich ihn als gleich, soll ich ihn als unter mir stehend behandeln? […] Der Neger ist ein Kind. Ohne Autorität ist bei einem Kinde nichts auszurichten. […] Den Negern gegenüber habe ich dafür das Wort geprägt: Ich bin dein Bruder; aber dein älterer Bruder.»[8]
Kennt man aber das Wirken Albert Schweitzers, der 1952 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, und zieht man in Betracht, dass das Wort «Neger» für ihn vermutlich seiner Wortwurzel entsprechend einfach «Schwarzer » bedeutet und nicht zwingend eine pejorative Konnotation hatte, wird klar, dass es keinen Sinn ergibt, Schweitzer aufgrund einer punktuellen Aussage eine generelle geringschätzende Haltung gegenüber Farbigen zu unterstellen. Problematisch sind in diesem Zusammenhang auch, wie oben bereits erwähnt, in jüngster Zeit häufig kritisierte Passagen aus dem Vortragswerk Rudolf Steiners. Als Beispiel mag folgendes Zitat aus der TAZ gelten: «Diejenigen Menschen aber, die ihre Ich-Wesenheit zu wenig entwickelt hatten, die den Sonneneinwirkungen zu sehr ausgesetzt waren, sie waren wie Pflanzen: Sie setzten unter ihrer Haut zu viele kohlenstoffartige Bestandteile ab und wurden schwarz. Daher sind die Neger schwarz.» An anderer Stelle spricht Steiner von «der ganz passiven Negerseele, die völlig der Umgebung angepasst ist»[9]. Solche Redeweisen sind grundsätzlich und besonders mit Kenntnis der Rassenpolitik im Nazideutschland und der Apartheidspolitik der USA und Südafrikas im 20. Jahrhundert inakzeptabel. Sie klingen für heutige Ohren wie eine Wertung von Menschen aufgrund ihrer ethnischen Abstammung. Steiner hat aber von 1863 bis 1925 gelebt. Die Zeit seiner Hauptwirksamkeit lag sogar noch vor dem Wirken Hesses und Schweitzers. Ausdrücke wie «Rasse» und «Neger», aber auch «Niggermusik» für Jazz waren damals zeitüblich und gesellschaftlich verbreitet und wurden sicher nicht mit Vorgängen konnotiert, die erst viel später stattgefunden haben. Eine auch nur geringe Kenntnis des Wirkens Steiners zeigt zudem, dass er als Humanist immer ein ausdrücklicher Gegner jeder Diskriminierung war.[10]
Weitere Beispiele vor dem 20. Jahrhundert
Der Rassebegriff in Bezug auf den Menschen findet sich jedoch schon weit vor dem 20. Jahrhundert in z.T. markant ausgeprägten Wertungen. In den Arbeiten des schwedischen Naturwissenschaftlers Carl von Linné (1707–1778), der als Begründer der modernen Taxonomie gilt und in fast jedem heutigen Schulbuch als einer der Begründer der modernen Biologie aufgeführt wird, liegen möglicherweise wichtige Wurzeln für die klassifizierende Einteilung der Menschen nach Rassen:
Europaeus: regitur ritibus – albus, sanguineus, torosus
(von Gesetzen regiert – weiß, sanguinisch, muskulös)
Americanus: regitur consuetudine – rufus, cholericus, rectus
(von Gebräuchen regiert – rot, cholerisch, aufrecht)
Asiaticus: regitur opinionibus – luridus, melancholicus, rigidus
(von Ansichten regiert – blassgelb, melancholisch, steif)
Africanus: regitur arbitrio – niger, phlegmaticus, laxus
(von der Willkür regiert – schwarz, phlegmatisch, schlaff)
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den ethnographischen und genotypischen Unterschieden der Menschen hat in Europa durch die Entdeckungen neuer Erdteile zum Beginn der Neuzeit einen Aufschwung erfahren. Die Arbeiten Linnés sind erste Versuche der begrifflichen Deutung. Sie typisieren den Menschen nicht nur äußerlich, sondern schreiben ihm auch bestimmte seelische und charakterliche Eigenschaften zu. Auch Leibnitz hat das Problem beschäftigt: «Auch beim Menschen könnte man, wenn man im logischen Sinne redet, die Arten unterscheiden, und wenn man beim Äußeren stehen bliebe, Verschiedenheiten im physischen Sinne ausfinden, welche als spezifische gelten könnten. So hat es einen Reisenden gegeben, welcher annahm, dass die Neger, die Chinesen und endlich die Amerikaner weder untereinander noch mit den uns gleichenden Völkern von gleicher Rasse wären.»[11]
Brisanter sind in diesem Zusammenhang die Äußerungen Immanuel Kants über den «Neger». Sie stellen die zitierten Beispiele aus dem 20. Jahrhundert weit in den Schatten. Im Jargon seiner Zeit kommt Kant zu folgenden wertenden Klassifizierungen von ethnischen Gruppen: «In den heißen Ländern reift der Mensch in allen Stücken früher, er reicht aber nicht die Vollkommenheit temperierter Zonen. Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften.»[12] «Die Mohren […] haben eine dicke Haut, wie man sie denn auch nicht mit Ruten, sondern gespaltenen Röhren peitscht, wenn man sie züchtigt, damit das Blut einen Ausgang finde und nicht unter der dicken Haut eitere.»[13] «Die Neger von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische steigt.»[14]
Man kann solche Sätze aus heutiger Sicht nicht anders als verfehlt und unerträglich bezeichnen. Dennoch ist Kant einer der Protagonisten der Aufklärung in Deutschland und hat sich unleugbare Verdienste auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie, der Metaphysikkritik und der Ethik erworben. Es mangelt auch nicht an Distanzierungen von Kantianern von diesen seinen spezifischen Sichtweisen. Ihn nachtäglich aufgrund der obigen Äußerungen zum Vorläufer von rassistischem Denken im Sinne der Nationalismen des 20. Jahrhunderts machen zu wollen, wäre, trotz der derben Ausdrucksweise, einfach verfehlt.
Auch Hegel hat aus den Voraussetzungen seiner Zeit heraus eine eigenartige Sicht auf Afrikaner entwickelt: «Der eigentümlich afrikanische Charakter ist darum schwer zu fassen, weil wir dabei ganz auf das Verzicht leisten müssen, was bei uns in jeder Vorstellung mit unterläuft, die Kategorie der Allgemeinheit. Bei den Negern ist nämlich das Charakteristische gerade, dass ihr Bewusstsein noch nicht zur Anschauung irgendeiner festen Objektivität gekommen ist, wie zum Beispiel Gott, Gesetz, bei welcher der Mensch mit seinem Willen wäre und darin die Anschauung seines Wesens hätte. Zu dieser Unterscheidung seiner als des Einzelnen und seiner wesentlichen Allgemeinheit ist der Afrikaner in seiner unterschiedslosen, gedrungenen Einheit noch nicht gekommen, wodurch das Wissen von einem absoluten Wesen, das ein anderes, höheres Selbst wäre, ganz fehlt. Der Neger stellt, wie schon gesagt worden ist, den natürlichen Menschen in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit dar. […] Es ist nichts an das Menschliche Anklingende in diesem Charakter zu finden.»[15]
Hegel ist als universeller und enzyklopädischer Denker in die Geschichte eingegangen und galt lange Zeit neben Kant als der Philosoph der deutschen Geistesgeschichte. Seine Äußerungen über die «Neger» in Afrika können eine imperialistische Hierarchisierung von Menschen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit nahelegen. Wenn man auch seine Einschätzungen farbiger Afrikaner ablehnen muss, so darf dies nicht blind dafür machen, dass Hegel auch Kind einer Zeit war, die noch unsensibel war für die Problematik und Wirkung bestimmter sprachlicher Ausdrucksformen. Es ließen sich die Beispiele noch vermehren. Ein besonderes Problem stellen die schlimmen Hetzreden Martin Luthers[16] über die Juden dar, auf die aber hier nicht eingegangen werden soll.[17]
Fazit
Unsere heutige Sicht auf die Verwendung von Ausdrücken wie «Neger» oder «Rasse» ist geprägt durch geschichtliche Erfahrungen vor allem des 20. Jahrhunderts. Diese haben uns erst sensibel gemacht. Manch heutiger Kritiker diskriminierender Redeweisen übersieht, dass er seine Kritikfähigkeit allein dem Leben in einer postfaschistischen Zeit verdankt. Die vorbehaltlose Analyse diskriminierender Rede- und Ausdrucksformen in Texten der Vergangenheit und die entschiedene Distanzierung davon kann einen wichtigen Beitrag zur Festigung universalistischer Werte leisten. Der dekontextualisierend Verurteilende von Denkern und Kulturträgern der Vergangenheit aufgrund aus heutiger Sicht nicht zu akzeptierender Vorstellungen und Redeweisen macht sich aber die eigene historische Bedingtheit nicht klar und läuft selbst Gefahr, einfach nur undifferenziert zu diffamieren. Er übersieht, dass das gesellschaftliche Gewissen und die Überwindung von Diskriminierung und ethnischer Vorurteile eine kulturelle Errungenschaft bzw. ein langwieriger historischer Prozess sind, der auch noch lange nicht abgeschlossen ist. Man leistet nichts für den gesellschaftlichen Fortschritt, wenn man Äußerungen kulturproduktiver Persönlichkeiten der Vergangenheit aus ihrem zeitspezifischen und werkbezogenen Kontext reißt und dann auf dem Hintergrund unzutreffender Konnotationen gegen sie zu Felde zieht. Die Herausgeber und die wissenschaftlichen Rezipienten von in dieser Hinsicht problematischen Texten oder Passagen aus Texten tun aber gut daran, sie nicht unkommentiert zu lassen, so dass der heutige Leser die faire Chance hat, sich ein sachgerechtes Urteil zu bilden. Bei vielen der zitierten historischen Beispiele ist dies auch hinreichend passiert. In Bezug auf Textpassagen aus dem Werk Steiners gibt es mit Ausnahme des Berichts der holländischen Kommission und der vom Bund der Freien Waldorfschulen herausgegebenen Publikationen leider überwiegend nur Versäumnisse. Besonders begründungsbedürftig ist die Tatsache, dass der Verlag, der über mehrere Jahrzehnte die alleinige Verantwortung für die Editionen der Werke Steiners hatte, erst in zwei Bänden der Gesamtausgabe problematische Redeweisen aus dem Vortragswerk Steiners in jüngst vergangener Zeit kommentiert hat und letztlich erst aufgrund der Androhung der Indizierung seine Herausgabepraxis verändern will. Gleichermaßen ist nur schwer verständlich, wie im Bereich der Waldorfschulen diese Probleme so lange unterschätzt wurden und ihre kritische Behandlung im Rahmen der Lehrerbildung nicht genügend wirksam bis in die Schulen hinein stattgefunden hat. Solche Versäumnisse haben genauso dazu beigetragen, die unbefangene Sicht auf die zentralen humanistischen Ideen und spirituellen Einsichten der Anthroposophie Steiners zu verstellen, wie die Stellungnahmen derjenigen, die in problematischen Stellen aus seinem Vortragswerk die für sie geeigneten Mittel zu effekthaschender Kritik finden. Man sollte seine Lehren für die Zukunft daraus ziehen. Denn es ist schmerzlich, dass ein Kämpfer für die Überwindung von ethnischen und sonstigen Vorurteilen wie Rudolf Steiner überhaupt nur in die Nähe abstrusester Vorstellungen gebracht werden konnte, die im exakten Gegensatz zu seinen tatsächlichen Anschauungen stehen. Nein, wer sich mit Rudolf Steiner beschäftigt, findet in seiner Anthroposophie eine beispiellose Hinführung zu einem modernen Humanismus und zur tiefen Schätzung und Anerkennung des Eigenwertes der verschiedenen Völker und der Vielfalt der Kulturen.
Dr. Marcelo da Veiga wurde 1960 in Brasilien geboren. Schul- und Jugendzeit in Deutschland, später Professur in Brasilien. Heute Professor für Bildungs- und Kulturphilosophie an der Alanus Hochschule in Alfter.
[1] Christoph Drösser: Stimmt’s? Lübke und die Neger. In: «Die Zeit», Nr. 14/2002.
[2] Diskreditiert ist z.B. der Begriff «Rasse» in der Anwendung auf Menschen laut Rudolf Schmitt spätestens seit der Aufarbeitung des Faschismus und Nationalsozialismus: «Rasse» wurde auf Menschen übertragen eine «der Biologie entlehnte Metaphorik des Faschismus», die nicht nur zum Denken in Bildern verführte und dabei den «gesellschaftlichen bzw. persönlichen Diskurs» verfestigte, sondern auch zu Begriffen und dann Handlungen wie ausmerzen, ausrotten, vertilgen führte. Vgl. Rudolf Schmitt: http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/2-03/2-03schmitt-d.htm.
[3] Wie freizügig mitunter nichtdeutsche Autoren mit der Bezeichnung «Neger» umgehen, zeigt z.B. folgende Passage bei Paul Feyerabend, der sich als wissenschaftstheoretischer und gesellschaftlicher Vordenker des 20. Jahrhunderts einen Namen gemacht hat: «Wir haben da eine Grundtradition, eine Reihe von Institutionen, die auf ihr beruhen, und verschiedene Gruppen, die nicht nach Art der Grundtradition, sondern ihren eigenen Traditionen gemäß leben wollen. Diese Gruppen sind nicht Mörder und Totschläger, sie sind Indianer, Gruppen von Negern, religiöse Sekten aller Art, traditionell denkende Chinesen und so weiter. Ihre Lage ist nicht leicht. Sie stoßen auf eine Mauer von Verboten, Gesetzen, Schreckreaktionen, dogmatischen Behauptungen und einfachem Staunen: Wie können vernünftige Menschen so unvernünftige Wünsche haben? (Oder umgekehrt, aber nicht zu oft offen ausgesprochen: Was kann man von Indianern, Negern, Frauen schon anderes erwarten!) Die Frage ist: Was kann ein bestimmter individueller Mensch, zum Beispiel ein Rationalist, in dieser Situation tun?» In: Paul Feyerabend: Erkenntnis für freie Menschen. Frankfurt/Main 1980. S. 157.
[4] Rassismus im strengen Sinne liegt nur dann vor, wenn der persönliche Wert und die politischen Rechte eines Menschen aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe definiert werden. Von Nationalismus muss man sprechen, wenn der Wert von Menschen und ihre politischen Rechte aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Nation definiert werden.
[5] Michael J. Bamshad, Steve E. Olson: Menschenrassen – eine Fiktion? In: «Spektrum der Wissenschaft» Mai 2005.
[6] Grundgesetz Artikel 3(3): «Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.»
[7] Herman Hesse: Steppenwolf.
[8]www.albert-schweitzer-zentrum.de.
[9] In: «die tageszeitung» vom 23.8.2007.
[10] In der Sicht Steiners ist das Prinzip der ethnischen und stammesmäßigen Identität von Menschen primär ein Phänomen der Vergangenheit, das sich in Auflösung befindet und in Zukunft jede Bedeutung und auch jeden Sinn verlieren wird. Schon heute ist der einzelne Mensch im hohen Maße darauf angewiesen, sich eine individuelle kulturelle Identität zu geben. Ein Rassist möchte durch Rassenideologie Herrschaftsansprüche legitimieren und sichern. Es bedarf daher schon einiger Konstruktionen, Rassismus ausgerechnet bei jemandem sehen zu wollen, der eine Theorie der Auflösung der ethnischen Gruppen und der Bedeutungslosigkeit von Rassenzugehörigkeit vertritt.
[11] Gottfried W. Leibnitz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. S. 336.
[12] Immanuel Kant: «Von den verschiedenen Racen der Menschen zur Ankündigung der Vorlesungen der physischen Geographie». http://www.ikp.uni-bonn.de/Kant/aa09/316.html
[13] Immanuel Kant: Von den verschiedenen Racen der Menschen zur Ankündigung der Vorlesungen der physischen Geographie. http://www.ikp.uni-bonn.de/Kant/aa09/313.html
[14] Immanuel Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. Darmstadt 1970. S. 880.
[15] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Werkausgabe Suhrkamp, Bd. XII. Frankfurt/M. S. 121f.
[16] Martin Luther: Von den Juden und ihren Lügen. 1543.
[17] Vgl. Ursula Homann: Martin Luther und die Juden. http://www.ursulahomann.de/MartinLutherUndDieJuden/komplett.html; Walter Bienert: Martin Luther und die Juden. Frankfurt am Main 1982.